Fragmente 2

Todsicheres Projekt

1.Waltinger,  Friedrich,Journalist, Chef der 22-Uhr- Nachrichten, Freund von 6
2.Mulligan,Fred ,Videojournalist, Geliebter von 4
3.Martens,Wilhelm vonhefredakteur,Chef von 1
4.Kösters,Monique  Journalistin, Exgeliebte von 1
5.Mildenwein,Irmgard, Chefsekretärin von 3
6.Probst,Elmar,Kriminalkommissar, Freund von 1

 

 

 

 

Erzähler: erzählt aus der Draufsicht, versetzt sich in die Personen, erzählt aus ihrer Perspektive

Tatmotiv: Geld & Begierde

Ganz Kurzfassung: Zickenalarm, Journalistin bringt Chefsekretärin um, die ihr den Freund ausgespannt hat; Verwirrung:

Gliederung:
Vorstellung der Personen
Konflikt
Mühen
Scheitern
Gefahr
Lösung

Intro

Fred Mulligan zog den Kopf ein. Mit lautem Getöse flog eine US-Maschine über das RWS-Studiogebäude in Kaiserslautern. „So ein Mist – schon wieder ist die Einstellung verwackelt.“
Der junge Deutschamerikaner richtete das Objektiv seiner Kamera erneut auf den Großen Studiosaal, in dem bald ein denkwürdiges Konzert stattfinden würde – hatte der Planer gesagt.
Heute blies ein heftiger Sommerwind den Hügel aus der Stadt hinauf. Mulligan konnte kaum die Kamera gerade halten. Immer wieder setzte er an, und dann kam dieser Windstoss und die Einstellung war verwackelt. Das würde ihm niemand abkaufen.

Mulligan produzierte als Selbständiger. Den Sendern stellte er gerne die große Sony-Kamera in Rechnung, nicht aber die kleine 3-Chip-Kamera von Panasonic, mit der er in Wirklichkeit arbeitete. Er kratzte sich den krausen schwarzen Kopf und trotte den Hügel hinunter zu seinem Wagen, um das Stativ zu holen.
Mulligan war schwarz, nicht ebenholzschwarz, aber sein  Vater aus dem kleinen Ort Plaesanton im mittleren Kalifornien hatte ihm von seiner Hautfarbe mehr mitgegeben als Mutter Elsa, die aus Idar-Oberstein stammte und den Vater bei einem der dortigen Manöver kennen und lieben gelernt hatte.
Das war nicht ohne Folgen geblieben, eine davon war seine Geburt gewesen, und der Vater hatte sich auch bemüht, in Deutschland nach der Army Fuß zu fassen, aber am Ende war die Ehe gescheitert und der Vater in den Familien-Logistikbetrieb nach Plaesanton zurückgekehrt.
Fred war dann mit seiner Mutter in Idar-Oberstein geblieben, hatte in Mainz Orchideenfächer wie Slawistik, Literaturwissenschaften und Buch- Schrift und Druckwesen studiert, danach natürlich keinen Job gefunden. Zum Glück hatte er sich während des Studiums als Kameraassistent Geld dazuverdient. Deshalb produzierte er jetzt als selbst drehender und selbst schneidender Videojournalist für alle möglichen Sender und verdiente nicht schlecht.
Er klappte die Tür des Viano zu, freute sich wieder einmal über das sanfte Plopp, mit dem der neueste Daimler-Vielzweckwagen antwortete und trottete wieder den Berg hinauf.
Er schleppte das schwere, aber stabile Stativ leichtfüßig. Aber unter den Achseln seines weinroten Hemdes bildeten sich dunkle Schweißflecken. Fred stöhnte. Er wollte das Material noch im Auto schneiden und dann zur Senderzentrale für die 22-Uhr-Nachrichten bringen. Und er hatte noch eine Verabredung mit seiner frischesten Eroberung. Ganz oben im Sender. Attraktiv, gepflegt – und deswegen mochte sie Schweißflecken unter den Achseln überhaupt nicht.
Vielleicht fuhr er noch in die Stadt und kaufte sich ein neues Hemd. Vielleicht freute sie sich, dass er kam.
Vielleicht liebte er sie.
Vielleicht, vielleicht.

 

 

 

„So ein Laberer!“ Friedrich Waltinger rutschte immer tiefer in den ledernen Konferenzsessel der Hauptredaktion „Frisch und Fromm“ – wie die Aktualität in ihrem Sender genannt wurde. Seit zwei Stunden saß er nun schon in einem schlecht belüfteten Konferenzraum fest, dessen Fenster wegen des Straßenlärms auch noch verschlossen waren. Alle müffelten vor sich hin, das sommerschwüle Deo seiner Nachbarin ließ die Testesteronwolke der restlichen – männlichen – dreizehn Sitzungsbeischläfer halbwegs ertragen.
Sein Chefredakteur hatte gerade zu einer Eloge auf Kosten sparende Produktionsweisen angesetzt. Dabei sparte er nicht mit den üblichen Fremdwörtern „synergetisch“, „vernetzt“ und „multimedial“. Waltinger konnte es schon lange nicht mehr hören.

Seufzend griff er nach einem Bleistift und starrte auf das leere Blatt vor sich. Eigentlich war es kein Blatt, sondern ein Block. Tatsächlich war es gar kein Block. Seine Sekretärin hatte nur die unbedruckten Rückseiten der  Programmhinweise für die Presse recycelt. Diese Hinweise wurden stets auf ordentlichem Papier einseitig im DIN A 4-Fornmat gedruckt und in regelmäßig an alle Redaktionen verschickt – und dort sozusagen als Schmierpapiervorrat genutzt. Waltinger lupfte vorsichtig unter das ersten Blatt und entdeckte einen Absatz über eine seiner  eigenen Produktionen für das Satelliten-Gemeinschaftsprogramm darauf. Er knabberte in Erinnerungen an die Aufzeichnung für die Diskussionssendung  am oberen Ende des Stiftes und spukte überrascht und angeekelt ein Stück Radiergummi aus. Er verscheuchte die Erinnerung an die Mittelmäßigkeit seines Tuns und konzentrierte sich scheinbar pflichtbewusst auf sein Blatt Papier. Doch was sollte er notieren?
Leere Blätter haben etwas brutal Intimes. Sie bergen alles und nichts, die Hoffnung auf Perfektion, Vollkommenheit, Illusion und die Furcht vor Stümpertum, Gewölltem, gar Mittelmaß.
Normalerweise malte er gerne, wenn ihm langweilig war wie heute, wenn er sinnlos herumsaß und nicht flüchten konnte, weil ihm keine Ausrede einfiel.
Am liebsten malte er Bäume – einsame Bäume auf einsamen Wiesen unter einsamen Wolken. Lonesome rider. Er, der Held, der Cowboy, der Nachrichtenchef.
Waltinger setzte den Stift an, versuchte mit der Hand ein paar Luftschwünge – nichts. Das Blatt blieb leer und sein Kopf auch.
Der Stift lag eigentlich ganz locker in der Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger.
Ein schöner Stift,  Venezia stand darauf und Theatro La Fenice. Sein Stift? Der der schwülstig duftenden Nachbarin? Ach, Venedig ... er blickte auf das weisse Blatt und stellte sich ein Venedigbild darauf vor. Rialto, die Brücke, das Hotel, das Vaploretto, das Klatschen der Wellen, der "Biglietti"-Ruf des Schaffners, der Geruch nach frischem Fisch und den Müllbooten, nach dem Markt in der Nähe und dem frischen Mörtel am Haus in der Seitengasse. In seinem Arm eine Frau, seine Frau, die sich an ihn lehnte, er fuhr mit der Nase durch ihre nassen Locken.
Damals hatten sie sich noch gut verstanden. Sie, die jüngere Kollegin, später Geliebte, Betrogene, Frau und Mutter seiner inzwischen erwachsenen Söhne. Kennen gelernt hatten sie sich natürlich im Sender. Ein Betriebsfest endete zu später Stunde im kleinen Kreis bei einem Kollegen. Sie war auch dabei, und gar nicht so zickig, wie die anderen immer sagten.
Ein langes Leben hatte ihre Beziehung gehalten, geduldet, was sie einander auch antaten, aber vor drei Wochen war sie schließlich nach einem neuen unendlich verletzenden Streit ausgezogen. Er vermisste sie, oder er vermisste die Vertrautheit, aber er wollte auch nicht mehr.
Von Sehnsucht und neuer Kraft beseelt versuchte er ein paar Schwünge in der Luft, die Hand zuckte, aber der Stift wollte nicht aufs Papier, nicht konkret werden, nicht das Chaos in seinem Kopf abbilden, nicht seine Wut aushalten, dass er hier saß und in seinem Herzen ein Feigling war, der nicht aufstand und öffentlich sagte, was alle dachten.
Dass diese Sitzung so banal waren gegen die Dramen da draußen, über die sie berichteten, dass die Dramen im Hause nicht minder eruptiv und verletzend abliefen, und dass über alles nur mit dieser lässigen schnöden schnodderigen Arroganz gesprochen wurde.  

Waltinger schwieg wieder einmal und starrte auf das Papier, das er mit den Daumen am Tisch festhielt. Eine feine Narbe überquerte das zweite Daumengelenk der linken Hand. Wie hatte er sie sich zugezogen? Der heftige, ungebremste Schnitt durch ein Brötchen? Seine Mutter war geeilt gekommen, hatte ihr Küchentuch auf den Schnitt gepresst und ihn getröstet. Waltinger schluckte.
Der Riss an einer scharfen Krampen-Kante? Als der Sturm so gewaltvoll an den Segeln zerrte, dass seine Hand beim aufgeregten Bergen über einen herausstehenden Nagel der Belegkrampe aufgerissen war. Er hatte instinktiv am Finger gelutscht, es hatte rostig, nach Bodenseewasser und irgendwie auch nach Obst geschmeckt.
Oder einfach das lange Ziehen der Dornen beim Rosenschneiden? Am Tag nach seinem 50., ein Sonntag morgen vor zwei Jahren, als er noch müde und taumelig von der letzten liebevollen Nacht mit der linken Hand bei der undruchdringlichen und schier unendlich schwermütig duftenden Abraham Durby nach dem richtigen Punkt zum Schnitt gesucht hatte, den Stiel entlanggefahren war, um den Nachwuchspunkt zu erfühlen. Dann hatten die Dornen ihn gepackt, sich in sein flaches Fleisch über deHand gekrallt. Beleidigt hatte er die Hand zurückgezogen und die drei abgeblühten Rosen am Strauch gelassen.
Das Blatt, auf das er jetzt seit zehn Minuten starrte, war immer noch leer und würde es heute wohl auch bleiben. 
Waltinger riss sich zusammen und nahm die fortgeschrittene Szene wieder in Augenschein.

Der Monolog seines Chefs währte nun schon Hand-gestoppte 17 Minuten und 35 Sekunden. Dass kaum einer der begonnenen Sätze grammatikalisch richtig geendet hatte, fiel hier schon lange keinem mehr auf. Die Zeiten, in denen sie auch noch die „ähs“ und „öhs“ gezählt hatten, waren gnädig vorbeigeschlichen, ohne dass sich etwas geändert hatte.

„Neuer Wein in alten Schläuchen“ zischelte seine Tischnachbarin, Monique Kösters – die mit dem schwülstigen Deo. Vor ein paar Jahren hatte Waltinger gerne daran in allen möglichen Positionen geschnüffelt, dann war Monique in die Arme eines jüngeren Juristen aus der Rechtsredaktion entschwunden. Jetzt schlug sie elegant die sonnengebräunten Beine übereinander und registrierte wohlgefällig Waltingers begehrlichen Blick auf ihren sich dabei leicht entblößenden Oberschenkel. „Aber Walter...“ sie strahlte ihn an und zog dabei nur die eine Augenbraue hoch. Monique war eben eine ganz besondere Kollegin – fanden die meisten Männer im Haus, was ihr gefiel, sehr gefiel.

Der Chefredakteur setzte seine Rede fort, dazu holte nun mit um eine halbe Note erhöhter Tonlage zur Schlusssequenz aus. Alle erschraken und schauten auf. Fröhlich strahlte er die Runde an: „wieder einmal geschafft, Euch lahme Penner aufzuwecken“ murmelte er halblaut und fuhr fort:
„... werden wir am Ende unserer Tage gar nicht darum herumkommen, VJs einzusetzen, äh, sie produzieren zu ... na jedenfalls wird das uns ermöglichen, äh, auf den vorhandenen Sendeplätzen weiter Geld einzusparen, damit wir ... äh ... ein paar neue Ideen verwirklichen können. Damit komme ich auf meinen Vorschlag zurück ...“ er kramte in seiner Unterlagen, die ihm gleich zu Beginn der Konferenz aus der perfekt sortierten Mappe gerutscht waren und nun auf den Platz vor ihm in stillem Chaos ruhten.
Waltinger konnte es einfach nicht mehr sehen. Er murmelte etwas von „ ... dringender Rückruf der Staatskanzlei...“ und wollte in Richtung der Tür entschwinden, die  in das Vorzimmer des Chefs führte. Unauffällig – dachte er.

„Gerade die 22.00-Uhr-Nachrichten, lieber Kollege Waltinger, habe ich als Hauptspielort für das neue Produktionsverfahren ins Auge gefasst. Haben Sie sich mit Videojournalismus schon mal befasst? Das hat Zukunft, ist preiswert,  bringt die Leute in Schwung, ist ein todsicheres Projekt.“ prustete der Chef heraus.
Waltinger stöhnte. Fast hatte er die Tür doch schon erreicht, nun wäre er fast über den Chef gestolpert, der ihm den Stuhl zielsicher in den Weg schob.
„Nicht wirklich“ murmelte Waltinger nach einer langen Schrecksekunde„ ich meine, wollen Sie wirklich mit einer kleinen Handkamera aus der Damentasche zur Pressekonferenz des Ministerpräsidenten gehen?“
Der Chef ließ seinen Stuhl stehen, wo er war. Allerdings musste er Waltinger nun von unten  ansehen. Das mochte er nicht, zu Mitarbeitern aufsehen.
Waltinger dagegen genoss die plötzlich sehr nahe Draufsicht auf seinen Chef. Entdeckte an dessen Hinterkopf eine leicht kahle Stelle, und ein kleines Tröpfchen Blut. Verwundert schaute er näher darauf, was den solchermaßen Inspizierten noch mehr irritierte. Von Martens strich sich instinktiv übers Haar, als ob er die Blickstelle schützen wollte und da war der rote Fleck weg.
Waltinger murmelte etwas von Projektgruppe. Auf dieses Schlagwort gab der Chef doch meist Ruhe. Nicht heute.
„Lieber Herr Waltinger“, der Chef sprach nun in die Runde, ohne ihn anzuschauen. Damit wollte er die Scharte wieder auswetzen, dass er zu einem Mitarbeiter hatte aufschauen müssen. Stattdessen blickte von Martens nun zu seinem Referenten, der eilfertig mitschrieb. „Ich erwarte bis zum fünfzehnten von Ihnen ein Konzept zur Einführung von Videojournalisten in der 22-Uhr-Ausgabe.“

Die Kollegen in der Runde feixten. Da hatte es also nun Waltinger erwischt. An das Thema Videojournalismus wollte hier niemand heran. Videojournalismus – das war in ihren Augen doch Kinderkram und nichts für so professionelle und hochwertige Sendungen wie die ihren. Journalisten, die selbst drehen und scheiden – wer wollte das wirklich?
Waltinger seufzte, er saß in der Klemme. Er wollte hier raus, doch da thronte der Chefredakteur im Wege und wollte einen Ergebenheits-Zoll. Waltinger starrte auf die jetzt saubere kahle Stelle am Hinterkopf und nickte. „Wie bitte?“ bellte es vom Konferenztisch. Waltinger riss sich zusammen. Jetzt nicht noch im Abgang die Kontenance verlieren. Wenigstens eine gute Pointe zum Abgang. In seinem Kopf ging er fieberhaft die Alternativen durch, bis ihm der goldene Mittelweg einfiel. „ Na klar, das ist ja sowieso die Zukunft ...“ er blickte in die feixende Runde „ ...für uns alle!“.
Der Chef war endlich zufrieden, das hatte er hören wollen. Er schob seinen Stuhl aus dem Weg und Waltinger glitt hinter ihm an der Wand entlang.
Er öffnete die Tür in Vorzimmer des Chefs, drehte sich im Herausgehen aber noch einmal um und schleimte in die Runde: „Da werde ich natürlich den Personalrat einschalten müssen“. Der Chef holte zu einer Replik aus, würde ihm jetzt sagen wollen, mit dem Personalrat wollte er entweder nichts zu tun haben oder selbst verhandeln. Doch Waltinger war schon draussen.
Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss und Waltinger über ein ausgestrecktes Bein.
Der restliche Körper des Hindernisses verbarg sich hinter einem edlen Sideboard.
„Oh Pardon, Frau Mildenwein,“  Waltinger kannte die sorgfältig rasierten Beine unter dem Minirock aus vielen Sitzungen. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“. Er stützte sich auf das Sideboard und beugte sich vorsichtig vor, um nicht noch einmal zuzutreten.
Frau Mildenwein hätte das aber nicht mehr gestört. Ihr Hinterkopf war unnatürlich zur Seite gereckt, ein dünnes Rinnsal Blut aus ihrem Mund war schon zu Schorf getrocknet, der aber nichts mehr heilen würde. Frau Mildenwein war nach allen Anzeichen tot.
Waltinger hatte als Krisenreporter schon viele Tote gesehen und zögerte deshalb nur kurz. Er setzte seinen Weg bis zum nun leeren Schreibtisch im Büros der toten Sekretärin fort und griff zu ihrem Telefon. Die Nummer der Mordkommission kannte er auswendig, weil es zu seinem Job gehörte, und weil der Kriminalhaupt-Kommissar sein Freund war.